Der Polizeiwissenschaftler Rafael Behr bewertet das Urteil des Dortmunder Landgerichts zu tödlichen Polizeischüssen auf den 16-jährigen Flüchtling Mouhamed Dramé kritisch. Der Freispruch für alle fünf angeklagten Polizistinnen und Polizisten sei ein sehr mildes Urteil, sagte der emeritierte Professor der Akademie der Polizei in Hamburg dem Evangelischen Pressedienst (epd). Es habe „den taktischen Fehler“ nicht gesehen, der dazu geführt habe, dass sich die Beamten durch eigenes unüberlegtes Handeln in eine angebliche Notwehrsituation gebracht hätten.
Nach Einschätzung des Gerichts handelten die Angeklagten bei dem Einsatz im August 2022 in Notwehr, da sie sich durch den 16-jährigen Flüchtling aus dem Senegal mit einem Messer in der Hand bedroht gefühlt hätten. Der Einsatz sei unvermeidbar gewesen und deswegen nicht strafbar, sagte der Vorsitzende Richter. Die Vertreterin der Nebenklage kündigte Revision an.
„Ich persönlich hätte es besser und gerechter empfunden, wenn der Einsatzleiter wenigstens, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, zu einer symbolischen Strafe verurteilt worden wäre“, sagte Behr. Eine symbolische Verurteilung des Einsatzleiters hätte auch für eine größere „generalpräventive Wirkung“ sorgen können. Damit hätte eindeutig auf fehlerhaftes Verhalten der Polizei hingewiesen und sie so noch stärker gezwungen werden können, neue Vorgehensweisen zu trainieren, erklärte der emeritierte Professor. Die Staatsanwaltschaft hatte für den Einsatzleiter eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung gefordert.
„Bei dem jetzt ergangenen Urteil fürchte ich, dass die autoritären Kreise in der Polizei auftrumpfen werden und sagen 'Sehr Ihr, die Kollegen haben alles richtig gemacht'“, sagte Behr dem epd. Das verringere den Reformwillen.
Grundsätzlich müsse unterscheiden werden zwischen institutionellen Fehlern und individueller Schuld, erklärte Behr. Er hoffe, dass das Urteil den eingesetzten Beamtinnen und Beamten eine neue Form der Fehlerkultur ermöglichen werde. Man könne das Urteil auch so lesen: „Die Polizei hat einen Fehler gemacht, der aber den eingesetzten Polizistinnen und Polizisten nicht strafrechtlich angelastet wird, weil sie das gemacht haben, was sie gelernt haben mit Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen“, sagte der emeritierte Professor. Für den Rechtsfrieden und die Kontrolle des staatlichen Gewaltmonopols sei es wichtig gewesen, dass es überhaupt einen Prozess gegeben habe.
Behr ist seit dem Frühjahr im Ruhestand. Zuvor lehrte er am Fachhochschulbereich der Hamburger Polizeiakademie Soziologie und Kriminologie. Er hatte 1999 über die Organisationskultur der Polizei promoviert.