«Haben das Potenzial, mit Problemen umzugehen»
Urs Keller
Badischer Diakoniechef Urs Keller
epd-Gespräch mit dem scheidenden Chef der Diakonie Baden über den Sozialstaat
Karlsruhe (epd)

Nach 13 Jahren im Amt geht der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Baden, Oberkirchenrat Urs Keller, im November in den Ruhestand. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) blickt der Soziologe und Theologe auf den Fachkräftemangel und erläutert, wie die Diakonie ihr christliches Profil bei einer steigenden Anzahl nicht-christlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewahrt.

epd: Herr Keller, Fachkräftemangel im Kita- und Pflegebereich, Wohnungsnot, mehr Armut - geht es im sozialen Bereich nur noch bergab?

Keller: Die Mächtigkeit und die Geschwindigkeit des Faktors «Demografie» hat man lange unterschätzt. Es sind ja nicht nur Fachkräfte, sondern auch Ehrenamtliche, die fehlen. Lücken in der Versorgung - aufgrund von Demografie und geringeren finanziellen Verteilungsspielräumen - gefährden schon heute in Teilen die Versorgung, vor allem in strukturschwachen Gebieten. Der Sozialstaat kann als nicht handlungsfähig erlebt werden. Da sehe ich die große Herausforderung, auch für die Stabilität unserer Demokratie.

epd: Wie kann das weitergehen?

Keller: Die Geschichte hat gezeigt, dass wir das Potenzial haben, mit Problemen umzugehen. Wir brauchen mehr Raum für neue Netzwerke, für Initiativen, für sektorenübergreifende Ansätze, für die Kombination von Fachkräften, Zivilgesellschaft und Technik. Es gibt viele, die sich engagieren wollen. Dafür brauchen wir aber mehr Gestaltungsfreiheiten in der Sozialwirtschaft und auch mehr gegenseitiges Vertrauen. Durch mehr Bürokratie mehr Sicherheit zu generieren, führt in die Irre.

epd: Wie sehr spürt die Diakonie den Fachkräftemangel?

Keller: Das ist unterschiedlich. Wir haben sehr attraktive Arbeitgeber. Die haben zwar auch weniger Bewerbungen, aber sie haben Bewerbungen. Weil sie schon lange einen bunten Strauß an Maßnahmen anbieten: individuelle Dienstpläne, Praktika, Ausbildung, Beratung, Mitarbeitenden-Feste, Angebote für die persönliche Entwicklung.

Diejenigen, die sich an ihren Mitarbeitenden orientieren und deren Stärken entwickeln, haben es als Arbeitgeber leichter. Aber wir haben auch Pflegedienste, und das ist nicht nur ein diakonisches Thema, die manche Touren nicht mehr fahren können, weil es ihnen an Leuten fehlt. Es gibt Kita-Gruppen, die nicht eröffnet werden können, weil die Leute fehlen.

epd: Wie kann man den Fachkräftemangel in der Pflege lösen?

Keller: Wir brauchen eine Erleichterung der Einwanderung. Und dann brauchen wir mehr digitale Technik und KI. Die Digitalisierung könnte alte Menschen darin unterstützen, länger in ihrem Haus wohnen zu bleiben. Ich denke etwa an Sturzmatten, die mit dem Hausnotruf verknüpft sind. Auch in der Beratung ist digitale Technik einsetzbar.

epd: In der Diakonie Baden arbeiten fast 37.000 Menschen in einer Vielzahl sozialer Einrichtungen. Wie bewahrt die Diakonie ihr christliches Profil bei einer steigenden Zahl nicht-christlicher Mitarbeiter?

Keller: Wir erhalten und entwickeln unser Profil, indem wir selbst werteorientiert sind und mit unseren Mitarbeitenden an Werten und Orientierung aktiv und dialogisch arbeiten. Wir erleben da eine große Offenheit in der Mitarbeitendenschaft.

Wer in der Diakonie arbeitet, darf von seinem Arbeitgeber erwarten, dass er sich um Sinnfragen und spirituelle Fragen aktiv kümmert, dass er offen ist gegenüber interkulturellen und interreligiösen Fragen und Bedürfnissen. Wer für die Diakonie arbeitet, hat die grundsätzliche Entscheidung getroffen, an und mit Menschen zu arbeiten und eine Werthaltung zu entwickeln.

epd: Kommen wir noch einmal zur Einstiegsfrage zurück. Geht es den Menschen schlechter?

Keller: Es ist zu pauschal gesagt, dass es allen schlechter geht. Allerdings nehmen die prekären Lagen zu. Hier nur von der Schere zwischen Arm und Reich zu sprechen, wäre zu einfach. Es gibt Dinge wie die Wohnungsnot, die sich in die Mittelschicht hineinfressen.

Wir haben eine zunehmende Anzahl von Menschen, die gerade so noch über die Runden kommen. Die befinden sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen und ihnen darf nichts passieren, die Miete darf nicht steigen, keine Reparaturen dürfen notwendig werden. Das erkennt man gar nicht so auf den ersten Blick - diese verdeckte Armut.

epd: Kann die Politik etwas dagegen tun?

Keller: Ja, natürlich. Die Menschen in gute Arbeit bringen, von der sie gut leben können. Den Mindestlohn halte ich dabei für ein wirksames Instrument. Aber auch die Standards in gewissen Bereichen nach unten fahren, zum Beispiel beim Bauen. Für investive Ausgaben muss die Schuldenbremse gelockert werden. Es muss wieder besser werden für die Menschen.

epd: Welche Pläne haben Sie für den Ruhestand?

Keller: Ich gehe planlos in den Ruhestand - als jemand, bei dem immer alles geplant war. Aber ich gehe natürlich mit Vorstellungen, was mich interessiert und was ich machen will. Wandern oder Ski fahren gehört sicherlich dazu. Ich bin neugierig, was noch kommt.

 

Von Leonie Mielke & Susanne Lohse (epd)