Selten hat ein Wahlgewinner so abwesend und überfordert ausgesehen wie Lothar de Maizière am Abend des 18. März 1990. Entgegen aller Wahlumfragen hatte die von ihm angeführte „Allianz für Deutschland“ die erste freie Volkskammerwahl in der DDR mit mehr als 48 Prozent der Stimmen deutlich gewonnen. Das konservative Wahlbündnis aus Ost-CDU, Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokratischem Aufbruch (DA) war nur wenige Wochen zuvor vom (westdeutschen) CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl geschmiedet worden.
Kohls Versprechen an die DDR-Deutschen lautete: Einführung der D-Mark, schnelle Wiedervereinigung, Wohlstand für alle. Das zog. Die Wahlbeteiligung an diesem sehr warmen, frühlingshaften Wahlsonntag lag bei rekordverdächtigen 93,4 Prozent.
Die in allen Umfragen zuvor hochfavorisierte Ost-SPD kam mit 21,9 Prozent abgeschlagen auf Platz zwei. Die PDS als um-etikettierte SED-Nachfolgepartei landete mit 16,4 Prozent der Wählerstimmen überraschend auf dem dritten Platz.
Ein bitteres Wahlergebnis fuhr die Bürgerrechtsbewegung der DDR ein, der maßgebliche Motor für die friedliche Revolution im Herbst 1989: Das Bündnis 90, zu dem sich die Bürgerrechtler-Vereinigungen „Neues Forum“, „Demokratie Jetzt“ und die „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ zusammengeschlossen hatten, erreichte magere 2,9 Prozent. Das reichte gerade einmal für zwölf Abgeordnete in der 400-köpfigen Volkskammer, weil es keine Fünf-Prozent-Hürde gab.
Vorausgegangen war ein Wahlkampf, der die graue, heruntergewirtschaftete DDR, das Land des ständigen Papiermangels, vom Erzgebirge bis an die Ostsee mit Plakaten und Flyern flutete. Mit Wucht griffen die Parteien aus dem Westen zur Unterstützung ihrer Schwesterparteien ein. Prominentes Spitzenpersonal der Bundesrepublik wie Kanzler Kohl, SPD-Altbundeskanzler Willy Brandt oder der FDP-Außenminister Hans-Dietrich Genscher wechselten sich auf den Wahlkampftribünen ab.
Die Bürgerrechtler, die mit ihrem beharrlichen Widerstand gegen das SED-Regime diese freie Wahl in der DDR überhaupt erst möglich gemacht hatten, hatten hingegen keine Strukturen, keine Zeitungen, keine Erfahrungen, kein Geld, konstatierte der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in einem Interview mit dem NDR. Das DDR-Volk habe ihnen diese Gestaltungskraft, die die Bonner Politiker und Bonner Parteien ausstrahlten, nicht zugetraut: „Sie hatten außer ihren moralischen Kredit gar nichts.“
Der Wahlkampf sei so in Bonn entschieden worden, sagt Kowalczuk: „Man wählte die politische Kraft, die die größte politische Stabilität, die größten wirtschaftlichen Zukunftsaussichten und das einfachste Zukunftsversprechen garantierte.“
Nach den Wahlen bildeten CDU, SPD, DSU, DA und die Liberalen eine große Koalition. Zum Ministerpräsidenten wählte die Volkskammer am 12. April 1990 Lothar de Maizière. Der Ost-Berliner Rechtsanwalt und studierte Bratschist war erst im November 1989 Vorsitzender der Ost-CDU geworden. Zuvor hatte die Blockpartei jahrzehntelang das SED-Regime gestützt.
Im Moment des überraschenden Wahlsieges sei ihm deutlich geworden, was da auf ihn zukomme, erklärte de Maizière später seinen abwesenden Blick an dem Wahlabend. Als Anwalt für Wirtschafts- und Steuerrecht habe er die ökonomische Lage der DDR gut einschätzen können und gewusst, dass das Land wirtschaftlich kurz vor dem Kollaps stand. Sich selbst sah er als „Konkursverwalter für 17 Millionen Mandanten“.
In der folgenden sechsmonatigen Legislaturperiode verabschiedete die Volkskammer in 38 Sitzungen mehr als 150 Gesetze und fasste rund 100 Beschlüsse. Zu ihnen gehörte am 21. Juni 1990 die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Zwei Monate später, in der Nacht vom 22. auf den 23. August, beschloss das Parlament zudem in einer Sondersitzung den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zum 3. Oktober 1990. Damit waren DDR und Volkskammer Geschichte.