Ein Fahnenmeer in den ukrainischen Farben blau-gelb, so weit das Auge reicht. Jeder Fahnenmast steht auf dem Grab eines Soldaten, der im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine getötet wurde. Gräber mit Fotos von Männern, von denen viele im Alter zwischen 20 und 30 Jahren ihr Leben verloren haben. Die Szenerie gehört zu einem Soldatenfriedhof am Rande der ukrainischen Hafenstadt Odessa, die der Bremer Pastor Andreas Hamburg so beschreibt. Gleich nebenan eine große leere Fläche, die noch belegt werden kann.
„Wenn du da stehst, gibt es keine Distanz mehr. Dann kommt die Trauer mit ganzer Wucht auf dich zu“, sagt der Theologe, der selbst in der Ukraine geboren wurde und heute als Friedensbeauftragter in der Bremischen Evangelischen Kirche arbeitet. Er kam im Alter von 21 Jahren nach Deutschland. Nach einem Theologiestudium war er im Auftrag der bayerischen Landeskirche zehn Jahre Auslandspfarrer in Charkiw und Odessa für die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche der Ukraine.
Mittlerweile ist er Pastor der Bremer Kirchengemeinde St. Markus. Und kirchlicher Friedensbeauftragter. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine organisiert er gemeinsam mit Partnern wie dem Bremer Senat und der Stiftung Ukraine in der Hansestadt Hilfstransporte ins Kriegsgebiet. Am vergangenen Wochenende war er zusammen mit einer Delegation unter der Leitung der Bremer Bürgerschaftspräsidentin Antje Grotheer (SPD) in Odessa, um zu sehen, wie es den Menschen dort geht. Die Szenerie auf dem Friedhof, sagt er im Rückblick, „das hat mir die Schuhe ausgezogen“.
Auch die Gedenktafel an die Kriegsopfer einer Schule in Krasne, zwei Stunden südwestlich von Odessa, hat ihn tief berührt. Das Dorf hat 1.350 Einwohner, allein auf dieser Tafel stehen 80 Namen. „Das zeigt, wie monströs dieser Krieg ist, wie monströs diese Verwüstungen sind“, sagt Hamburg.
Monströs für alle, vor allem aber für die Kinder. „Viele Kinder sind durch den Krieg traumatisiert, es gibt mehr Risiko-Schwangerschaften, die Zahl der Fehlgeburten ist verdoppelt“, berichtet Bremens leitender evangelischer Theologe Bernd Kuschnerus. Er war Mitglied der Delegation, die Bremer Spendenprojekte sowie Orte des Gedenkens an die Opfer des Angriffskrieges besucht hat. Danach ist für ihn klarer denn je: „Wir können diese Menschen nicht der Gewalt und dem Terror ausliefern.“ Sie müssten weiter humanitär und militärisch unterstützt werden: „Die Menschen dort sind auf unsere Solidarität angewiesen.“
Flanieren auf der Hafenpromenade, Straßenmusiker, Biergärten, Menschen in Cafés und beim Einkaufen: Auch das gibt es nach den Beschreibungen der Delegation in Odessa. Und trotzdem: Die Stadt, nicht direkt an der Front gelegen, stehe unter ständiger Kriegsdrohung, betont Bürgerschaftspräsidentin Grotheer.
Daran wurde die Bremer Gruppe spätestens bei einem Raketenalarm erinnert. Die Menschen seien zerrissen zwischen Alltag und Krieg, mit ständigen Drohnen- und Raketenangriffen der Russen konfrontiert, sagt Andreas Hamburg und verdeutlicht, was das bedeuten kann: „Eine ballistische Rakete braucht etwa eine Minute von der Krim bis nach Odessa - zum Abfangen kaum eine Chance.“
Trotzdem versuchen die Menschen weiter ihrem Leben, ihrer Arbeit nachzugehen, hat Bernd Kuschnerus erfahren. Beispielsweise im Kinderkrankenhaus. „Die Intensivschwestern dort sind meine Heldinnen. Sie haben mir gesagt: Wenn Luftalarm ist, gehen wir nicht in den Keller. Sie wollen die Kinder weiter versorgen und leben mit dem Risiko.“ Das bleibe nicht ohne Folgen. „Die Menschen sind gezeichnet vom Krieg, das sieht man in ihren Augen, das hört man an ihren Stimmen.“ Die Angriffe der Russen seien bewusster Terror, „total erschreckend“.
„Damit zu leben, ist nicht einfach“, betont auch Andreas Hamburg. Für ihre Gastgeber sei es deshalb wichtig gewesen, gemeinsam einen Gottesdienst zu feiern. „Wir haben nach dem Abendmahl im großen Kreis zusammengestanden und uns die Hände gegeben.“ Damit habe die Delegation aus Bremen auch ein Signal setzen wollen: „Wir halten euch, wir helfen euch, wir denken an euch.“